Pfingsten, das Fest der freien Individualität



Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Feste lenken als Erinnerungszeichen der Zeit
unsere Gedanken und Gefühle nach der Vergangenheit.
Durch dasjenige, was sie bedeuten, erwecken sie in uns Vorstellungen, die uns verbinden mit alldem, was unseren Seelen
selber in Zeiten der Vergangenheit heilig war. Durch das Verständnis dessen, was in solchen Festen liegt, werden in uns
aber auch andere Vorstellungen erregt, solche, die unseren Blick hinlenken nach der Zukunft der Menschheit, das heißt für
uns: nach der Zukunft unserer eigenen Seele.
Was das Pfingstfest für die Menschen des Abendlandes bedeutet, das stellt sich vor uns hin in einem gewaltigen, in einem
tief ins Gemüt sprechenden Bilde.
Der Begründer, der Stifter des Christentums, weilt noch eine Weile, nachdem er das Mysterium von Golgatha vollzogen hat,
unter denen, die ihn zu sehen vermögen in jener Leiblichkeit, die er nach dem Mysterium von Golgatha angenommen hat.
Dann wird uns die weitere Folge der Ereignisse in einer bedeutungsvollen Bilderreihe vor die Seele gerückt. Es löst sich auf,
sichtbar in einer gewaltigen Vision für seine nächsten Bekenner, die Leiblichkeit, die der Begründer des Christentums nach
dem Mysterium von Golgatha angenommen hat, in der sogenannten Himmelfahrt.
Und dann folgt in zehn Tagen das, was uns nun gekennzeichnet wird durch ein Bild, das eine eindringliche Sprach führt für
alle Herzen, die es verstehen wollen. Versammelt sind die Bekenner des Christus, versammelt die, welche ihn zuerst
verstanden haben. Versammelt sind sie mit tiefer Inbrunst, diese ersten Bekenner und Versteher des Christus-Impulses, an
dem Tag des in ihren Gegenden altehrwürdigen Pfingstfestes.
Und erhoben werden ihre Seelen zu höherer Anschauung, gerufen werden sie gleichsam durch das, was uns dargestellt wird
als „gewaltiges Brausen“, um ihr Betrachtungsvermögen nach dem hinzulenken, was da werden soll, was ihnen bevorsteht,
wenn sie in immer neuen Wiederverkörperungen mit dem Feuerimpuls, den sie in ihre Herzen empfangen haben, auf dieser
unserer Erde leben werden.
Und hingemalt wird vor unsere Seele das Bild der „feurigen Zungen“, die sich niederlassen auf das Haupt eines jeglichen
Bekenners, und eine gewaltige Vision sagt den Teilnehmenden, wie die Zukunft dieses Impulses sein wird.
Denn die also versammelten und die geistige Welt im Geiste schauenden ersten Versteher des Christus fühlen sich so, als ob
sie nicht sprechen würden zu denen, die in ihrer unmittelbaren Raumesnähe, in ihrer unmittelbaren Zeitennähe sind: sie
fühlen ihre Herzen weit, weit hinausversetzt  zu den verschiedensten Völkern des Erdkreises, und sie fühlen, wie wenn in
ihren Herzen etwas lebt, was übersetzbar ist in alle Sprachen, in das Verstehen der Herzen aller Menschen auf Erden, die
ihnen in der Zukunft begegnen werden.

Und sie fühlen es so, als ob sie einmal die Macht haben würden, die christlichen Verkündigungen in solche Worte zu kleiden,
die nicht nur denen verständlich sind, die gerade in ihrer unmittelbaren Raumes -und Zeitennähe sind, sondern allen
Menschen auf Erden, die ihnen in der Zukunft begegnen werden. Das war es, was als ein innerer Gefühls -und Gemütsinhalt
sich ergab für die ersten Bekenner des Christentums am ersten christlichen Pfingstfeste.
Die Erklärungen aber, die im Sinne des wahrhaft esoterischen Christentums gegeben werden und in Bilder gekleidet wurden,
die sagen: Der Geist, der auch wohl genannt wird der Heilige Geist, der das ist, der seine Kraft zur Erde herniederschickte in
der Zeit, als der Christus Jesus in die Erde hinein seinen Geist sandte, der zunächst wiedererschien, als der Jesus getauft
wurde von Johannes dem Täufer, derselbe Geist in einer anderen Form vieler einzelner, leuchtend feuriger Zungen, senkte
sich nieder zu den einzelnen Individualitäten der ersten christlichen Versteher.
Und von diesem Heiligen Geiste wird uns im Pfingstfeste noch in einer ganz besonderen Form gesprochen.
Stellen wir uns einmal die Bedeutung des Wortes „Heiliger Geist“, wie es in den Evangelien gemeint ist, vor unsere Seele hin.
Wie sprach man denn überhaupt in alten Zeiten, auch in den der christlichen Verkündigung vorangegangenen, von dem
Geist?
Man sprach in alten Zeiten in vieler Beziehung von „Geist“, insbesondere aber in einer Beziehung. Man hatte ja die durch
unsere heutige geisteswissenschaftliche Erkenntnis wieder sich rechtfertigende Anschauung: Wenn ein Mensch durch die
Geburt ins Dasein tritt, das zwischen Geburt und Tod verfließt, dann wird der Leib, in den diese Individualität sich
hineinverkörpert , in zweifacher Weise bestimmt. Diese menschliche Leiblichkeit hat ja im Grunde zweierlei Aufgaben zu
erfüllen. Wir sind mit unserer Leiblichkeit Menschen im allgemeinen; wir sind aber auch mit unserer Leiblichkeit vor allen
Dingen Menschen dieses oder jenes Volkes, dieser oder jener Rasse oder Familie. In jenen alten Zeiten, die der christlichen
Verkündigung vorangegangen waren, verspürte man noch wenig von dem, was man nennen kann „allgemeine Menschheit“,
von jenem Zusammengehörigkeitsgefühl, das immer mehr und mehr seit der christlichen Verkündigung in dem
Menschenherzen gegenwärtig ist, und das uns sagt: Du bist Mensch mit allen Menschen der Erde!
Dagegen hatte man um so mehr von jenem Gefühl, das den einzelnen Menschen zum Angehörigen eines Volkes oder
Stammes machte.
Das haben wir ja selbst in der altehrwürdigen Hindureligion ausgedrückt in dem Glauben, daß ein wahrer Hindu nur der sein
könne, der durch Blutsgemeinschaft ein Hindu ist. In vieler Beziehung hielten daran auch fest - obwohl sie dieses Prinzip
vielfach durchbrochen hatten - die Angehörigen des althebräischen Volkes vor der Ankunft des Christus Jesus. Ein
Angehöriger seines Volkes war der Mensch nach ihrer Anschauung erst dadurch, daß ein Elternpaar, das diesem Volk
angehörte, das heißt blutsverwandt war, ihn hineingestellt hatte in dieses Volk.

Aber auch etwas anderes wußte man immer zu fühlen. Man war zwar in alten Zeiten bei allen Völkern immer mehr oder
weniger sich fühlend wie ein Glied eines Stammes, wie ein Glied des Volkes, doch je weiter wir zurückgehen in urferne
Vergangenheit, desto intensiver ist dieses Gefühl vorhanden, sich gar nicht als eine einzelne Individualität zu fühlen, sondern
als Glied eines Volkes.
Aber, man lernte sich doch auch als einzelner Mensch sich fühlen, als eine einzelmenschliche Individualität mit individuellen
menschlichen Eigenschaften.
Das fühlte man gleichsam als die zwei Prinzipien, welche in unserer äußeren Menschlichkeit wirken: die Zugehörigkeit zum
Volke und die Individualisierung als einzelner Mensch. Nun schrieb man die Kräfte, die zu diesem zwei Prinzipien gehörten,
in verschiedener Weise den beiden Eltern zu. Das Prinzip, durch das man mehr seinem Volk angehörte, durch das man sich
mehr der Allgemeinheit eingliederte, schrieb man der Vererbung durch die Mutter zu.
Wenn man im Sinne dieser alten Anschauungen fühlte, sagte man von der Mutter, in ihr walte der Geist des Volkes und hat
das allgemein volksmäßig Menschliche vererbt an ihr Kind. Und von dem Vater sagte man, daß er Träger und Vererber jenes
Prinzipes sei, das dem Menschen mehr die individuellen, persönlichen Eigenschaften gäbe. Im Sinne des althebräischen
Volkes der vorchristlichen Zeit wurde dem Kind die Persönlichkeit, die Individualität durch die Kräfte des Vaters zuerkannt.
Der Geist, der im Volke waltete wurde durch die Mutter dem Kind zugesprochen.
Nun war aber durch den Christus-Impuls eine neue Anschauung gekommen, eine Anschauung, daß dieser Geist, von dem
man früher gesprochen hat, dieser Volksgeist abgelöst werden sollte von einem ihm zwar verwandten, aber viel höher
wirkenden Geist, von einem solchen Geiste, der sich verhält zu der ganzen Menschheit, wie sich der alte Geist verhalten hat
zu den einzelnen Völkern.  Dieser Geist sollte der Menschheit mitgeteilt werden und sie erfüllen mit der inneren Kraft, die da
sagt:  Ich fühle mich nicht mehr bloß angehörig einem Teile der Menschheit, sondern der ganzen Menschheit, und werde
immer mehr ein Glied dieser ganzen Menschheit sein!
Diese Kraft, die also ausgoß das allgemein Menschliche über die ganze Menschheit, schrieb man dem Heiligen Geist zu.  So
erhöhte sich der Geist, der sich aussprach in der Kraft, der vom Volksgeist in die Mutter floß, vom Geist zum Heiligen Geist.
Derjenige, der den Menschen die Kraft bringen sollte, das allgemein Menschliche immer mehr und mehr im Erdendasein
auszubilden, der konnte nur wohnen, als der Erste, in einem Leibe, der vererbt war im Sinne der Kraft des Heiligen Geistes.
Dies aber empfing als Verkündigung die Mutter des Jesus.
Und im Sinne des Matthäus-Evangeliums hören wir, wie bestürzt Joseph ist - von dem uns gesagt wird, er sein frommer
Mann, das heißt aber im Sinne des alten Sprachgebrauches ein solcher, der nur glauben konnte, wenn er einmal ein Kind
haben werde, dann werde es herausgeboren sein aus dem Geiste des Volkes- , als er erfährt: die Mutter seines Kindes ist
erfüllt, ist „durchdrungen“ denn so hat das Wort seine richtige Bedeutung in unserem Sprachgebrauch, von der Kraft eines
Geistes, der nicht bloß Volksgeist ist, sondern der Geist der allgemeinen Menschheit!

Und er glaubt nicht, daß er mit einer Frau Gemeinschaft haben könnte, die ihm ein Kind gebären könnte, das in sich trägt
den Geist der ganzen Menschheit  und nicht den Geist, zu dem er in seiner Frömmigkeit gehalten hat. Da wollte er sie denn
wie gesagt wird „heimlich verlassen“. Und erst nachdem ihm auch aus den geistigen Welten eine Mitteilung gegeben worden
war, die ihm Kraft gab, konnte er sich entschließen, einen Sohn zu haben von jener Frau, die durchdrungen und erfüllt war
von der Kraft des Heiligen Geistes.
Dieser Geist ist also schöpferisch tätig, indem er mit der Geburt des Jesus von Nazareth seine Kräfte einfließen läßt in die
Menschheitsentwicklung. Und er ist weiter tätig bei jenem gewaltigen Akt der Johannistaufe am Jordan.
Nun verstehen wir, was die Kraft des Heiligen Geistes ist: Es ist die Kraft, welche den Menschen immer mehr und mehr
erheben soll von allem, was ihn differenziert und absondert, zu dem, was ihn zu einem Glied der ganzen, die Erde
erfüllenden Menschheit macht, was als Seelenband wirkt von einer jeglichen Seele zu einer jeden anderen Seele, ganz
gleichgültig in welchem Leibe sie wohnt.
Eine Taube ist es, eine einheitliche Gestalt, in der sich der Heilige Geist bei der Johannistaufe manifestiert, in vielen
einzelnen Zungen manifestiert er sich am Pfingstfest!
Und jede der einzelnen Zungen ist inspirierend für die Individualitäten, für eine jegliche Individualität der ersten Bekenner
des Christentums.

Als was steht denn dieses Pfingstsymbol vor unserer Seele?
Erst nachdem der Träger des Allgemeingeistes auf der Erde gewirkt hat, nachdem die einheitliche Hüllennatur des Christus
im geistigen Erdendasein aufgegangen ist, da ist erst die Möglichkeit gegeben,  aus den Herzen der ersten Bekenner des
Christusimpulses
davon zu sprechen und in diesem Sinne zu wirken.
Untergegangen ist der Christus-Impuls, insofern er sich in äußeren Hüllen manifestiert hat, in der einheitlichen geistigen
Welt durch die Himmelfahrt.
Wieder raufgetaucht ist er zehn Tage danach aus den Herzen heraus der einzelnen Bekenner. Und dadurch, daß derselbe
Geist, der gewirkt hat in der Kraft des Christus-Impulses, in vielfacher Gestalt wiedererschienen ist, dadurch wurden die
ersten Bekenner des Christentums die Träger und Verkünder der Christus-Botschaft, damit an den Beginn der christlichen
Entwicklung das gewaltige Wahrzeichen setzend, das uns sagen kann: So wie ein jeder der ersten Bekenner - ein jeder - den
Christus-Impuls aufgenommen haben, aufnehmen durften als die Ihre eigenen Seelen inspirierenden feurigen Zungen, so
könnt ihr Menschen alle, wenn ihr euch bemüht, den Christus-Impuls verstehen, die Kräfte individualisieren, den Christus-
Impuls aufnehmen in eure Herzen, die Kräfte aufnehmen, die euch wirken lassen im Sinne dieses Impulses immer
vollkommener und vollkommener.
So ist der Heilige Geist durch seine Spaltung, durch Vermannigfachung ein individueller Geist in jeder Menschenindividualität
geworden. Dadurch ist der Heilige Geist für uns Menschen in bezug auf unsere Zukunftsentwicklung, der Geist der
Entwicklung zum freien Menschen, zur freien Menschenseele. Der Geist der Freiheit waltet in dem Geist, der sich
ausgegossen hat über die ersten Versteher des Christentums am ersten christlichen Pfingstfest, der Geist, dessen
bedeutsamste Eigenschaft von dem Christus-Jesus selber angedeutet wird:
„ Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“
Fei werden kann der Mensch nur im Geiste. Solange er abhängig ist von dem, worin sein Geist als in seiner Leiblichkeit
wohnt, solange bleibt er ein Sklave dieser Leiblichkeit.
Frei werden kann er nur, wenn er sich im Geiste wiederfindet und aus dem Geiste heraus Herr wird über das, was in ihm ist.
„Frei werden“ setzt voraus: sich als Geist finden in sich selber. Der wahre Geist, in dem wir uns finden können, ist der
allgemeine Menschengeist, den wir als die in uns pfingstlich einziehende Kraft des Heiligen Geistes erkennen, den wir in uns
selber gebären müssen, zur Erscheinung kommen lassen müssen.
So verwandelt sich für uns das Pfingstsymbol in unser gewaltigstes Ideal der freien Entwicklung  der Menschenseele zu einer
in sich geschlossenen freien Individualität.
Von uns selber aber hängt es ab, ob wir früher oder später die Kräfte zur Entfaltung bringen auf die wir hoffen dürfen, und
die uns wieder hinauflenken zum Geistigen, zu den Himmeln.