Der neutrale Okkultismus-eine Wahrheit aller Zeiten


Auszug aus dem Vortrag Nr.1 in Oslo 1912, Seite 39-48 von Dr. Rudolf Steiner im Buche „Lehrgang Esoterik“


Der okkulte Standpunkt ist immer in seinen Resultaten über die ganze Menschheit hin ein und derselbe. Es gibt nicht verschiedene okkulte Standpunkte. Es gibt ebensowenig verschiedene okkulte Standpunkte, wie es verschiedene Mathematiken gibt.
Es ist im Okkultismus nur notwendig, bei irgendeiner Frage die rechten Mittel zu haben, um Erkenntnis zu erlangen. Dann erlange man dieselbe Erkenntnis, die jeder andere erlangt, der die rechten Mittel hat. Es ist also nicht wahr, daß es im Okkultismus verschiedene Standpunkte gibt, ebensowenig wie es in der Mathematik verschiedene Standpunkte gibt. Der Okkultismus war überall da, wo er sich geltend gemacht hat, immer  der einheitliche Okkultismus.

Und wenn in den Theosophien, die aufgetreten sind, und die die äußere Einkleidung der okkulten Wahrheiten darstellen, sich Verschiedenheiten gezeigt haben, so ist das daher gekommen, daß für das eine Volk, für die eine Menschheitsepoche die Einkleidung anders getroffen werden mußte als für das andere Volk und die andere Menschheitsepoche. In der Einkleidung und in der Denkweise liegt die Verschiedenheit der Theosophien auf der Erde. Was dem Okkultismus zugrunde liegt, ist  überall ein und dasselbe.
Weil die Religionen aus der geisteswissenschaftlichen Einkleidung des Okkultismus hervorgegangen sind, deshalb sind sie  nach Völkern und Zeitaltern  verschieden gewesen. Der Okkultismus  kennt keine Verschiedenheit, kennt nicht irgendwas, was sich wie die Religionen so differenziert, daß der eine Mensch gegen den anderen zu einem Widerstand, zu einer Gegnerschaft gereizt werden könnte. Das gibt es innerhalb des Okkultismus nicht, da er dasjenige ist, was als einheitliches Menschheitsgut überall erlangt werden kann.


Insofern sich die Geisteswissenschaft insbesondere in unserer Zeit bemühen soll, eine der Gegenwart angemessene Einkleidung des Okkultismus zu sein, muß sie das Bestreben haben, so wenig wie möglich von den Differenzierungen in sich aufzunehmen, die in der Menschheit aufgetreten sind. Sie muß danach streben, ein getreuer Ausdruck  der okkulten Wahrheiten  zu sein. Geisteswissenschaft wird danach streben  müssen, gerade die speziellen Weltanschauungen und die religiösen Differenzierungen zu überwinden.

Immer mehr müssen wir überwinden lernen, eine Geisteswissenschaft mit einer bestimmten Färbung zu haben. Nach und nach  ist es in der Menschheitsentwicklung  so geworden, daß die Theosophie nach den religiösen Vorempfindungen und Vormeinungen besondere Schattierungen erhalten hat. Aber Theosophie sollte immer eine Wiedergabe des einheitlichen Okkultismus sein.
Deshalb kann es nicht eine buddhistische oder eine hinduistische, eine zarathustrische  oder eine christliche Geisteswissenschaft  geben. Gewiß werden für die einzelnen Völkerschaften die ihnen eigenen Vorstellungen und Begriffe  berücksichtigt werden müssen, mit denen man dem Okkultismus begegnet, aber  zugleich sollte die Geisteswissenschaft das Ideal haben, ein reiner Ausdruck  der okkulten Wahrheiten zu sein.
Es war daher eine Verleugnung des Grundsatzes aller Okkultisten  der Welt, wenn in Mitteleuropa in einzelnen Gemeinschaften eine Geisteswissenschaft aufgetreten ist,  die sich eine „christliche Geisteswissenschaft“  nannte. In Wahrheit kann es ebensowenig eine christliche Geisteswissenschaft  geben wie eine buddhistische  oder eine zarathustrische.


Den Religionen gegenüber wird  sich die Geisteswissenschaft auf den Standpunkt der Erklärung der religiösen Wahrheiten zu stellen haben, auf den Standpunkt des Verständnisses derselben. Dann wird sich zeigen, daß diese religiösen Wahrheiten als solche speziellen Formen, spezielle Ausgestaltungen der einen oder der anderen Seite des Okkultismus sind, und daß man den Okkultismus selbst erst dann erfaßt, wenn man ihn unabhängig  von solchen Differenzierungen begreift.
Wir haben schon bemerkt, daß das, was jetzt charakterisiert worden ist, als ein Ideal anzusehen ist.  Wenn es auch begreiflich ist, daß die geisteswissenschaftlichen Einkleidungen des Okkultismus über die Welt hin unterschiedliche Formen annehmen, so muß auf der anderen Seite wiederum gerade in unserer Zeit die Möglichkeit geboten werden, einheitlich über den Okkultismus zu sprechen.
Das erlangt man nur, wenn der Wille vorhanden ist, die besonderen Differenzierungen abzustreifen, die aus Vormeinungen und Vorempfindungen hervorgehen. Wir dürfen froh sein, wenn danach verlangt wird, über die elementarsten  Dinge der okkulten Erkenntnis widerspruchsfreie Urteile zu gewinnen.

Dies wird vor allem mit Bezug auf die wichtigen okkulten Wahrheiten von Reinkarnation  und Karma möglich sein. Soweit Geisteswissenschaft eine Wiedergabe okkulter Erkenntnisse sein will, wird sie sich bemühen, die Wahrheiten von Reinkarnation  und Karma über die ganze Erde hin zu verbreiten. Diese Wahrheiten werden das Schicksal haben, daß auch die Menschen mit religiösen Vorurteilen, die über die Erde hin verbreitet sind, die Segel vor ihnen streichen.

Ein weiteres Ideal wird sein, daß durch die Geisteswissenschaft jenes Friedenswerk in der Menschheit geleistet wird, wodurch in Bezug auf die höheren Gebiete okkulter Erkenntnis Einheit und Harmonie zustande gebracht  wird.  Das kann als ein Ideal aufgefaßt werden, aber es ist ein schwieriges Ideal.


Wenn man bedenkt, wie innig der Mensch heute noch mit seinen religiösen Vorurteilen, seinen religiösen Vormeinungen  verwoben ist - mit dem, was er begreift, worin er erzogen worden ist-, so wird man verstehen, wie schwierig es ist, in der Geisteswissenschaft etwas zu geben, was nicht durch religiöse Vorurteile gefärbt ist, sondern, was ein so getreues Bild der okkulten Erkenntnisse ist, als es überhaupt gegeben werden kann.
Es ist begreiflich, daß der Buddhist, solange er auf dem Standpunkt des buddhistischen Bekenntnisses steht, den Standpunkt des Christen ablehnt. Und wenn die Geisteswissenschaft eine buddhistische Färbung  erhält, so ist es auch natürlich, daß diese „buddhistische Geisteswissenschaft“ sich feindlich oder mißverständlich gegenüber dem Christentum verhalten wird.  Ebenso begreiflich ist es, daß in einem Gebiet, in dem christliche Dogmen herrschen, es wieder schwierig sein wird, zu einer objektiven Erkenntnis derjenigen Seiten des Okkultismus zu kommen, die im Buddhismus zum Ausdruck gekommen sind.
Das Ideal ist aber, das eine ebenso wie das andere zu verstehen und über die ganze Erde  hin ein harmonisches, friedvolles Verständnis zu begründen.
Der Buddhist und der Christ, wenn sie Geisteswissenschaftler geworden sind, werden sich verständigen, werden den Standpunkt eines harmonischen Ausgleiches finden. Es wird dem Geisteswissenschaftler als Ideal vorschweben, ein Bild des überall  einheitlichen Okkultismus zu gewinnen und dieses Bild von religiösen Vorurteilen loszulösen.
Es wird der Christ, der Geisteswissenschaftler geworden ist,  den Buddhisten verstehen, der ihm sagt: Es ist unmöglich, daß ein solcher Bodhisattva, nachdem er Buddha geworden ist, wieder in einen menschlichen Leib zurückkehrt.  Es ist mit der Buddhawürde eine so hohe Stufe menschlicher Entwicklung  erreicht, daß die betreffende Individualität  nicht wieder in einen menschlichen Körper zurückzukehren braucht.
Der Christ wird zum Buddhisten sagen: Mir hat das Christentum nichts über Wesen wie die Bodhisattvas eröffnet, aber indem ich mich zur Geisteswissenshaft aufschwinge, lerne ich nicht nur, daß du diese Wahrheit kennst, sondern daß auch ich selbst diese Wahrheit anerkennen muß.

Der christliche Geisteswissenschaftler wird dem Buddhisten so gegenüberstehen, daß er sagt:  Ich verstehe, was ein Bodhisattva ist. Ich weiß, daß der Buddhist eine Wahrheit über gewisse Wesen sagt, die gerade dort gesagt  werden kann, wo der Buddhismus sich verbreitet hat. Ich verstehe es, wenn der Buddhist sagt, ein Buddha kehrt nicht wieder in einem fleischlichen  Organismus.
Der Christ, der Geisteswissenschaftler geworden ist, versteht den Buddhisten, der Geisteswissenschaftler geworden ist.
Und wenn dieser Christ dem Buddhisten gegenübertritt, so kann er ihm sagen:  Wenn man das christliche Bekenntnis seinem Gehalt nach verfolgt, so verfolgt, wie es  in okkulten Schulen gelehrt worden ist in Bezug auf die okkulten Tatsachen, die ihm zugrunde liegen, dann zeigt sich, daß mit dem Namen Christus ein Wesen gemeint ist, das vor dem Mysterium von Golgatha  nicht auf der Erde war, - ein Wesen, das andere Wege als die der Erdeninkarnationen gegangen ist, das dann einmal im physischen Leib sein mußte, um in diesem Leib den Tod durchzumachen. Durch diesen Tod ist es das geworden, was es für die ganze Menschheit  werden sollte: ein Wesen, das nicht wiederkommen kann in einem physischen Leib, weil das der Natur des Christus widersprechen würde.

Wenn der Buddhist, der Geisteswissenschaftler geworden ist, das von dem Christen hört, dann wird er sagen:  Ich kann verstehen,  daß am Anfang des Christentums nicht ein Lehrer, sondern eine Tat steht.
Denn der christliche Okkultist  setzt  nicht den Jesus von Nazareth an den Ausgangspunkt, sondern den Christus. An den Ausgangspunkt setzt er das Mysterium von Golgatha.
Der Buddhismus unterscheidet sich von dem Christentum dadurch, daß er einen persönlichen Lehrer als Ausgangspunkt hat.  Das Christentum hat als Ausgangspunkt eine Tat, die Erlösungstat auf Golgotha  durch den Tod am Kreuz.  Nicht ein Lehrer, sondern eine Tat ist die Voraussetzung der christlichen Entwicklung.


Dies versteht der Buddhist, der zum Geisteswissenschaftler geworden ist. Und er nimmt, um Harmonie innerhalb der Menschheit zu begründen, dasjenige hin, was als okkulte Grundlage des Christentums gegeben ist.  Der Buddhist würde die Harmonie durchbrechen, wenn er seine buddhistischen Begriffe auf das Christentum anwenden wollte.

Wie es unmöglich ist, dasjenige, was mit dem Christus-Namen bezeichnet wird, mit dem Bodisattva-Namen zusammenzubringen, so ist es unmöglich, solange man dem Ideal der Geisteswissenschaft treu bleibt, die Bodhisattva-Eigentümlichkeiten auf den Christus anzuwenden. Dies würde die Friedensmission der Geisteswissenschaft verhindern. Diese wird aber erreicht, wenn die Geisteswissenschaft sich bestrebt, die einheitlichen Grundlagen in einer geisteswissenschaftlichen Form an die Menschheit heranzubringen, wie sie für unsere Zeit angemessen ist.

Wie wir im Abendland den Buddhismus, den Brahmanismus und den Zarathustrismus  ohne Vorurteil  verstehen, so wird es möglich sein, wenn das Christentum in der Form verstanden wird, in der es verstanden werden muß, die Grundlagen des Christentums zu erkennen und für solche Grundlagen des Christentums auch Anhänger zu finden.

Nicht immer hat man sich zur Wahrheit aufgeschwungen, daß der Ausgangspunkt des Christentums eine Tat ist, und daß nicht gesprochen werden kann von einer Wiederkehr des Christus. Es tauchten im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder Anschauungen auf, die von einer Wiederkehr des Christus sprachen. Sie wurden immer überwunden und werden immer überwunden werden, weil sie der Friedensmission der Geisteswissenschaft widersprechen, die der Ausdruck des einheitlichen Okkultismus sein soll.
Der Okkultismus war immer einheitlich und ist unabhängig von jeder buddhistischen oder christlichen Färbung. Er kann objektiv sowohl das Islamische wie das Zarathustrische und das Buddhistische verstehen, sowie er auch das Christliche verstehen kann.

Wir verstehen auch, warum in unsere Zeit das Ideal bestehen muß, daß nicht eine religiöse Ausdrucksform den Sieg über die andere davonträgt, sondern daß die religiösen Ausdrucksformen sich verständigen.
Vorbedingung für das gegenseitige Verstehen ist aber das Verstehen der okkulten Grundlagen, die in allen Religionen dieselben sind!


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